Ein Erfahrungsbericht von Ferdinand Krista.
Erfahrungsberichte aus der Sexarbeit sind ein schwieriger Balanceakt. Betone ich die Vorteile dieses Jobs zu sehr, wird mir der Vorwurf gemacht, ich verbreite Propaganda, sei Teil einer angeblich im verborgenen operierenden „Prostitutionslobby“ (die es nicht gibt). Lege ich den Fokus hingegen auf die rein praktischen Aspekte dieser Arbeit, hier und da garniert mit einer amüsanten Anekdote, wird der Bericht voyeuristisch und platt, ohne fundierte Einsichten in meine Lebensrealität als Sexarbeiter zu geben. Und würde ich nüchtern meine Arbeitsabläufe schildern, dann wäre das hier ein sehr langer Text darüber, wie ich sehr, sehr viel Zeit am Computer verbringe und stupide Kommunikationsabläufe abarbeite.
Dabei sind realistische Erfahrungsberichte aus der Sexarbeit sehr wichtig. Einerseits können sie dazu beitragen, die Stigmatisierung und Vorverurteilung von Sexarbeiter*innen in der Gesellschaft abzubauen. Sie können Menschen, die sich überlegen, ob sie in der Sexarbeit tätig werden wollen, bei der Entscheidungsfindung behilflich sein. Und vielleicht stolpert sogar irgendwann ein*e Tatort-Drehbuchautor*in über diesen Bericht und wir werden in Zukunft verschont von den immergleichen stereotypen Darstellungen der Branche in Filmen:
Szene 1:
Straße. Regen. Nacht. In den Pfützen spiegeln sich die Scheinwerfer des mit laufendem Motor am Straßenrand stehenden Autos. Ein Mensch in High Heels und Minirock beugt sich durch das Beifahrerfenster ins Wageninnere.
Szene 2:
Dicke, rote Samtvorhänge. Schummeriges Licht. Eine Chaiselongue. An den Wänden hängen große Ölgemälde in goldenen Bilderrahmen. Sanfte Jazzmusik erfüllt den Raum.
Szene 3:
Harter Techno wummert durch den Club. Lederne Sofalandschaften stehen um schwarze Beistelltische, auf denen teure Champagnerflaschen warten. In Käfigen lasziv tanzende Menschen. Muskulöse Männer besprechen in Nischen zwielichtige Geschäfte.
Wenn du Drehbuchautor*in bist und dir eine dieser Szenen aus deinem Entwurf bekannt vorkommt: ruf mich an! Lass uns reden! Oder lies einfach weiter. Denn nach der langen Einleitung darüber, was dieser Text alles sein oder nicht sein könnte, geht es jetzt ans Eingemachte!
Sexarbeit ist Arbeit. Und klassischerweise geht man einer Arbeit in erster Linie des Geldes wegen nach. Manche machen ihre Arbeit gerne, andere hassen ihren Job. Manche suchen Arbeit, die sie als sinnvoll empfinden. Manche suchen eine Arbeit, mit der sie mit möglichst wenig Aufwand genug verdienen, um ihre Miete zu zahlen. Mit welcher Motivation man sich eine Arbeit sucht und mit welcher Haltung man sie verrichtet, ist (neben sozialen Faktoren) vor allem: individuell. Das ist in der Sexarbeit nicht anders. Vor diesem Hintergrund sollte auch mein Erfahrungsbericht gelesen werden. Weder kann ich stellvertretend für meine Kollegen in der mann-männlichen Sexarbeit sprechen, noch ist meine Arbeitsweise repräsentativer, besser oder schlechter als die jedes anderen Sexarbeiters.
Ich bin vorwiegend in den Bereichen Escortservice, in der inklusiven Sexarbeit für Menschen mit Behinderung und als „Male Bizarr“ tätig. Das ist eine von mir aus Ermangelung an Alternativen kreierte Wortschöpfung, angelehnt an die sogenannte Bizarrlady, also eine Domina, die berührbar ist und teilweise auch penetrativen Geschlechtsverkehr anbietet. Als Male Bizarr arbeite ich in einem BDSM-Studio. Dort kann ich mich in unterschiedliche Räume einmieten und habe die Möglichkeit, auf sehr gutes Equipment zurückgreifen zu können. Von der Fickmaschine bis hin zum Flaschenzug ist alles vorhanden, was das Kundenherz (und andere Körperteile) mit Freude erfüllt.
Aber da sind wir schon bei dem größten Problem meiner Sexarbeitskarriere: den Kunden. Mann-männliche Sexarbeit ist im Gegensatz zu dem in der allgemeinen Wahrnehmung eher im Fokus stehenden frau-männlichen Pendant in weiten Teilen (noch) prekärer und schlechter bezahlt. Ich entspreche zudem keinen klassischen Schönheitsnormen, verfüge leider auch nicht über ausreichend Disziplin oder Selbstbeherrschung, um meinen Körper durch Muskelmasse in eine hünenhaft definierte Form zu bringen. Will sagen: die Nachfrage nach meinem „Typ“ ist überschaubar, die Kunden laufen mir nicht in Massen nach. Sexarbeit ist weit weniger Glamour als vielmehr Struggle. In schlechten Zeiten kann es schwierig sein, die mangelnde Nachfrage, die sich wiederholenden Verhandlungen über das Honorar, die teilweise derben und verletzenden Beleidigungen (wie sie bei online geführter Kommunikation nicht selten sind) nicht persönlich zu nehmen, die Selbstzweifel nicht überhand nehmen zu lassen. Es kann frustrierend sein, sich jeden Tag aufs Neue auf den gängigen Plattformen zur „Anbahnung“ meiner Dienstleistung einzuloggen. Manchmal folgt auf tage- oder wochenlange Leere in meinem Posteingang (und meinem Geldbeutel) eine Phase von vielen Zuschriften, von denen mir jede einzelne bescheinigt, wahlweise zu teuer, zu doof oder zu schlecht zu sein. Zwischen all diesen Nachrichten gilt es, die eine Anfrage zu finden, hinter der ein ernst gemeintes Interesse steht. Zusätzlich bedarf es der ständigen Pflege meiner Online-Auftritte, der verschiedenen Plattformen, meiner Homepage. Ich muss Fotos anfertigen und bearbeiten, muss Profiltexte erstellen und überarbeiten, meine Social-Media-Kanäle mit Content füttern und Nachrichten schreiben. Sexarbeit bedeutet für mich vor allem, Marketing auf möglichst vielen Ebenen zu betreiben, um Aufmerksamkeit zu generieren, die sich dann irgendwann hoffentlich in zahlende Kundschaft übersetzt. All diese Dinge nehmen einen derart großen Teil dessen ein, was reale Sexarbeit bedeutet, dass ich mich weigere, hier eine Prozentzahl zu nennen. Würde mir sowieso niemand glauben.
Leider wird mir dieser ganze Aufwand nicht vergütet. Geld verdiene ich ausschließlich über die real stattfindenden Treffen. Penetrativer Geschlechtsverkehr ist bei den Kunden, die ich erreiche, eine Seltenheit. Viel häufiger geht es um bestimmte Kinks, um Rollenspiele, um die Verarbeitung von Unsicherheiten, um die Überwindung von Scham durch ein Ausleben von Sexualität in einem streng abgesteckten, geschützten Raum. Man sollte nicht dem Irrglauben anheimfallen, dass mann-männliche Sexarbeit gleichzusetzen sei mit einer Identifikation der Kunden oder Dienstleister als homosexuell. Ich selbst lebe in einer heterosexuellen Partnerschaft. Die eigene Sexualität zu definieren ist mir ein Graus, aber um der Sache im Sinne der Verständlichkeit einen Namen zu geben, ist wohl die fürchterliche Vokabel „heteroflexibel“ für mich am zutreffendsten. Auch meine Kundschaft versteht sich mitnichten ausschließlich als homosexuell. Im BDSM-Bereich buchen mich oft Männer, die in heterosexuellen Ehen leben. Dabei geht es dann beispielsweise um bestimmte Kinks, für die das Geschlecht des Gegenübers irrelevant ist. Auch werde ich von heterosexuellen Männern gebucht, die darauf stehen, dass eine Kollegin von mir sie „zwingt“, einem Mann zur Verfügung zu stehen (sogenannte encouraged bzw. forced bi Sessions). Aber auch die klassischen „Leder-Daddy“-Enthusiasten finden sich hin und wieder bei mir ein, die Masochisten, die Rollenspieler und diejenigen, die sich allein fühlen und nach zärtlicher und liebevoller Berührung hungern. Wenn der Kreis meiner Kundschaft schon recht klein ist, dann kann ich doch zumindest mit stolz geschwellter Brust behaupten, dass er dafür einigermaßen divers ist.
Wichtig für ein gelungenes Treffen ist eine gute Kommunikation. Ich möchte wissen, was meine Kunden erregt, worauf sie stehen, was ihre Tabus sind. Die wenigsten wünschen sich, dass Sexualität anhand eines klaren „Drehbuchs“ abgehandelt wird. Sexuelle Dienstleistungen sind kein Porno, aber auch kein privates Sex-Date. Sie sind irgendwas dazwischen. Vielleicht eine Form von absurdem, kinky Improvisationstheater, nur ohne die schlechten Witze. Naja. Wenn ich ehrlich bin, dann eigentlich sogar mit den schlechten Witzen. Ich nehme dabei die Rolle eines Schauspielers und Regisseurs ein.
Häufig ist ein wichtiger Teil der Fantasie meiner Kunden, meine eigene Erregung oder Freude an dem Date spüren zu können. Und diese Erregung soll sich im besten Fall auch deutlich in meiner Hose abzeichnen. Ich danke meinem Körper für die Fähigkeit, ausreichend Blut in die betreffende Region zu pumpen, auch ohne eine real empfundene „Erregung“, die sich bei mir normalerweise nicht nur auf bestimmte Körperteile begrenzt. Denn Sexarbeit ist für mich eben vor allem Arbeit. Es geht dabei nicht um meine eigenen Vorlieben, meine eigene Lust. Es geht um die Erschaffung einer glaubhaften Illusion. Selbst wenn ich einen Orgasmus habe, ist das für gewöhnlich ein von mir bewusst gesteuerter, rein körperlicher Vorgang. Ich empfinde dabei nicht annähernd die gleiche Lust und Erleichterung wie bei einem „privaten“ Orgasmus. Wenn ich meine Kunden nicht anziehend finde, wenn ich ihren Geruch unangenehm finde, dann ist das für mich kein Grund, das bezahlte Date abzubrechen. Solang mein Konsens akzeptiert und meine Grenzen respektiert werden, solang ich mich nicht in Gefahr wähne, solang ziehe ich meine Dienstleistung auch durch. In all den Jahren musste ich bisher noch kein einziges Date aufgrund einer solchen Situation vorzeitig beenden. Wenn es besonders unangenehm ist, dann beschäftige ich meinen Kopf nebenher mit Rechenaufgaben a la „Ich habe jetzt schon eine viertel Stunde geschafft, noch drei Mal so lang und ich habe die Hälfte hinter mir“. (Bevor jetzt aber jemand auf die Idee kommt, mich retten zu müssen: ich habe in meinem früheren Leben auch andere, „bürgerliche“ Jobs gemacht. Dabei habe ich viel häufiger derart gegen die Unlust angerechnet.) Meistens bleiben mir diese für mich komplexen Rechenwege aber erspart. Ich finde den Ausdruck von Lust, Erleichterung, Scham, Erregung, Angst und Aufgeregtheit in den Gesichtern meiner Kunden erstaunlich. Ich beobachte ihre körperlichen Reaktionen auf meine Handlungen, ich studiere ihre Erscheinung und finde die Vielfalt im Aussehen von menschlichen Körpern faszinierend. Allein die unfassbare Variabilität, in welcher Form sich ein Penis aus den Speckfalten seines Trägers hervorkämpfen oder darin verschwinden kann, würde eine Bibliothek an Fotobüchern füllen können. Das meine ich mit der größten Bewunderung und liebevollen Hingabe, nicht im Mindesten belustigt.
Was bleibt also, am Ende dieses irgendwie merkwürdigen Erfahrungsberichts? Sexarbeit ist die Möglichkeit, Geld nach meinen eigenen Regeln zu verdienen. Ich sehe viele Dinge, die ich ohne diese Arbeit nie gesehen hätte. Ich tue viele Dinge, die ich mir niemals zugetraut hätte, die mich mit Erstaunen und Stolz über mich und meine Fähigkeiten erfüllen können, mir meist aber eher gleichgültig sind, da sie recht wenig mit mir als privater Person zu tun haben. Ich lerne Menschen kennen, die ich sonst niemals treffen würde. Menschen, aus finanziellen und gesellschaftlichen Sphären, zwischen denen es sonst kaum Überschneidungen zu mir gibt. Nicht selten stelle ich auch fest, dass es gut ist, diese Menschen privat niemals treffen zu müssen: Ich bediene in meiner Arbeit teilweise Schubladen, die mit meinen eigenen Haltungen und Idealen nur schwerlich zu vereinbaren sind. Vereinbar sind sie allerdings mit der Notwendigkeit, mir Essen zu kaufen und meine Miete zu zahlen. Es kann sehr schwierig sein, einen guten persönlichen Umgang damit zu finden, vor allem wenn um einen herum so viele Kolleg*innen davon berichten, wie gut es bei ihnen läuft. Ich glaube aber inzwischen insgeheim, dass manche ganz schön schwindeln. Wer gibt schon gern zu, dass er Sex anbietet, aber kaum jemand ihn bucht?
Ja, Sexarbeit bedeutet für mich viel Struggle und Frustration, sie macht mich nicht an. Sexarbeit bedeutet für mich aber auch eine Möglichkeit von Selbstbestimmung. Sexarbeit ist zwiespältig und komplex. So wie das Leben eben ist, wenn man nicht mit einem schönen Erbe gesegnet wurde.