Differenzierung in der Partnerschaft

Wenn Menschen eine Partnerschaft eingehen, sind sie meist sehr verliebt ineinander – eine wunderbare Beziehung beginnt, man/frau ist „verrückt” nacheinander, alle Sinne sind auf Gleichklang geschaltet. Die Partner sind sehr bemüht, Ähnlichkeiten zu entdecken oder sich ‚ähnlich’ zu machen. Erst allmählich erkennen sie ihre Verschiedenheit; es gibt Konflikte, Kränkungen und Enttäuschungen. Die Forschung geht davon aus, dass der Verliebtheitsprozess ca. 6 Monate dauert – je nachdem, wie häufig sich die Partner sehen können. Erst nach ca. 6 Monaten bis 1 Jahr entscheidet sich dann, ob aus den beiden ein Paar wird, nämlich dann, wenn die ersten Schwierigkeiten und Verschiedenheiten ausbalanciert werden müssen und beide in der Summe der Unterschiede weiterhin aneinander interessiert bleiben. Viele Paare sprechen im Nachhinein auch davon, dass es einen „toten Punkt” gab. Sich nach der Verliebtheitsphase aufeinander einzulassen – zu „entlieben” – ist der Beginn des Differenzierungsprozesses.

Differenzierung in der Partnerschaft heißt, den anderen zu lieben und dabei sich selbst treu zu bleiben und eigene Bedürfnisse zu benennen – auch dann, wenn der Partner es nicht akzeptiert oder bestätigt.

Das ist insgesamt ein sehr schwieriger Prozess, da die meisten Menschen durch ihre familiäre Sozialisation darauf konditioniert sind, sich nach den Bedürfnissen anderer zu richten. Männer wie Frauen versuchen die Bedürfnisse der Partnerin/des Partners zu „erspüren” und diese zu erfüllen, um selbst geliebt zu werden. Aber diese – eher unbewusste – Strategie ist nicht alltagstauglich, da sie zumeist darin endet, dass man/frau nicht genug Liebe und Zuwendung bekommt, einander Vorwürfe macht und aufrechnet, was man/frau alles für den anderen getan hätte usw.

Die meisten Menschen gehen mit einem emotionalen Defizit in die Partnerschaft und versprechen sich durch die Nähe zu einem Menschen Heilung von „alten Wunden”. Viele wollen es auch in ihrer eigenen Familie mal besser machen als in ihrer Herkunftsfamilie. Nur sind die frühen Prägungen sehr zäh und im wahrsten Sinne des Wortes „eingefleischt” – man spricht auch von einem verfestigten Charakter -, so dass alte Verhaltensweisen und Gewohnheiten auch in den selbstgewählten Beziehungskonstellationen praktiziert und wiederholt werden.

Ein Beispiel: ein Mann lernt eine Frau kennen, er wirbt um sie, sie gehen zusammen aus, lernen sich kennen und sind ineinander verliebt. Die Frau ist aufgrund ihrer Lebensgeschichte oft traurig, der Mann tröstet sie. Die Frau fühlt sich bei ihm sicher, und der Mann kann sich als Beschützer und sehr wichtig für die Frau fühlen. Dieses anfängliche Partnerschaftsmuster ist „gelernt”: Der Mann ist bei einer alleinerziehenden Mutter und mit jüngeren Geschwistern aufgewachsen und hatte sehr viel Verantwortung zu tragen. Dieses ihm vertraute Verhaltensmuster kann er bei seiner Partnerin wieder einnehmen. Irgendwann jedoch möchte er seine Ruhe haben. „Typisch Mann” an diesem Beispiel ist, dass er merkt, er will nicht mehr zuhören und lieber seine Ruhe haben. Aber er merkt nicht, was er will, wenn er seine Ruhe hat! Da beginnt der Differenzierungsprozess. „Ich will meine Ruhe haben” gilt sozusagen der eigenen Mutter und der früheren Konstellation, die ihm zuviel Verantwortung aufbürdete.

In der erwachsenen Partnerschaft sollte ein Mensch niemandem begegnen, wenn er seine Ruhe haben will. Wenn er sein Bedürfnis ernst nimmt, bleibt er dann allein. Wenn er mit jemandem zusammen sein will, dann deshalb, weil er mit ihm etwas erleben will, weil er ein eigenes Bedürfnis danach hat. Das muss dann noch nicht mit der Bedürfnislage des Partners zusammen passen. Ein Mensch mit einem hohen Differenzierungsgrad ist jedoch nicht darauf aus, um jeden Preis sein Bedürfnis durchzusetzen. Er kann es auch zugunsten seines Partners zurückstellen, aber es bleibt seine freie Entscheidung, ob er das tut. Mann/Frau wägt also nicht seine Wünsche mit den Wünschen des Partners ab, sondern er differenziert zwischen seinem Wunsch und dem Wunsch, auf die Wünsche des Partners einzugehen. Diese Freiheit ist an ein stabiles Selbst gebunden, an eine innere Identität, die sich nicht so leicht beirren lässt. Diese Identität kann sich nur in Beziehung zu anderen entwickeln. Man braucht den anderen, um seine Positionen und Überzeugungen zu entdecken und zu vertreten. Man muss jedoch aushalten können, damit alleine zu sein. Umso schöner ist es, Begegnung und Bestätigung zu erfahren, wenn man/frau sie nicht braucht.

Dr. Sabine Stiehler

Weiterführende Literatur:

Hans-Joachim Maaz: Der Lilith-Komplex. Die dunklen Seiten der Mütterlichkeit. DTV München 2005

Hans-Joachim Maaz: Die Liebesfalle. Beck Verlag München 2007

Michael-Lukas Möller: Die Wahrheit beginnt zu zweit. Das Paar im Gespräch. Rowohlt Taschenbuch-Verlag Reinbeck 1997

David Schnarch: Die Psychologie sexueller Leidenschaft. Klett-Cotta Stuttgart 2006, 3. Auflage

Weiterführende Links:

http://www.dieg.org/Wissenschaft/Partnerschaft.html

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