Sexuelle Reaktion und Risiko

Wie entsteht eigentlich eine sexuelle Handlung? Im Allgemeinen handelt es sich um einen Mechanismus, bei dem auf das sexuelle Begehren die sexuelle Erregung und die sexuelle Handlung folgen. Dem ist aber nicht so. Denn nicht die Erregung folgt auf den Wunsch, sondern es ist umgekehrt, der Wunsch folgt der Erregung.

Von der sexuellen Erregung zur „Explosion”

Die sexuelle Erregung bedeutet die Aktivierung des sexuellen Reaktionszyklus. Sie geht einher mit dem subjektiven Erleben genitaler Veränderung in einer „sexy”-Situation. Die sexuelle Erregung wird im Gehirn durch einen Reiz aktiviert, und zwar nicht irgendeinen beliebigen Reiz, sondern durch einen emotional wirkungsfähigen Reiz. Das kann bewusst oder unbewusst (spontan) geschehen.

Frühere Erfahrungen, aktuelle Eindrücke, erotische Phantasien spielen dabei eine Rolle. Auch der Partner und die emotionale Intensität der Beziehung sind von Bedeutung. Und wichtig ist die Anwesenheit attraktiver Reize. Fehlen diese Reize, passiert nichts – es kommt zum Phänomen der Lustlosigkeit. Diese Lustlosigkeit kann chronisch werden und ist es bei bemerkenswert vielen Menschen heute. Sie sind entweder gesättigt oder übersättigt oder abgestumpft. Erotische Signale, die früher aufgenommen wurden, bewirken nichts mehr. Ehemals wirkende Reize fruchten trotz Verschärfung nicht mehr. Die Gefühle sind wie tot.

Wirken aber die Reize, dann entsteht ein sexuelles Begehren. Der Wunsch nach sexueller Aktivität tritt hervor und kann übermächtig werden. Es kommt zum subjektiven Erleben einer Handlungsbereitschaft. Der sexuelle Appetit, die Lust und Vorlust, die Erregung breiten sich exponentiell aus. Der Handlungsbereite will und will, bis zu dem Punkt, ab dem ihm alles egal ist. Es folgt die sexuelle Handlung. Erst die Emotion, dann die Motivation, dann die Explosion.

Nicht die Kontrolle verlieren

Diesen sexuellen Reaktionszyklus zu verstehen und bei sich selber im Gefahrenfalle zu berücksichtigen, ist existentiell wichtig. Das bezieht sich nicht nur rücksichtsloses Agieren, übergriffiges Verhalten und kriminelle Handlungen, sondern auch auf das Risiko, sich mit einer sexuell übertragbaren Krankheit zu infizieren.

Der springende Punkt ist dabei der, an dem man die Kontrolle verliert.

Im Falle von sexuell übertragbaren Krankheiten wie AIDS kommt es darauf an, alle Umstände, Situationen und Erfahrungen zu filtern, die ein hohes Infektionsrisiko enthalten. In diesem Falle ist es notwendig, das Ingangsetzen des sexuellen Reaktionszyklus zu verhindern und bestimmte Motivationen für sich auszuschalten oder doch die sexuelle Steigerung nicht weiter zu treiben.

Präventionsarbeit

Bei der AIDS-Aufklärung wurden bisher drei Ebenen der Vermeidung einer HIV-Übertragung betont: die Partnerwahl, die Sexualtechnik und der Schutz (Kondom). War auf einer dieser drei Ebenen das Risiko ausgeschaltet, dann konnten die beiden anderen Ebenen vernachlässigt werden. Doch unterschätzte man hier den Moment, in dem der sexuelle Reaktionszyklus in Gang gesetzt wird und die Erregung gedeiht. Denn die Ansteckungsmöglichkeit liegt nicht allein bei einer bestimmten Person, sondern in einer bestimmten Situation.
Daher ist zu fragen:

  • In welcher Situation geschieht einer Infektion?
  • Wie kommt es zu dieser Situation?
  • Wie kann die Abfolge der Ereignisse, die zu dieser Situation führen, abgebrochen werden?

Dieses „STOP!” muss so früh wie möglich geschehen, jedenfalls vor dem genannten kritischen Punkt, an dem ein Zurück nicht mehr geht.

Risikobewusstsein stärken

Die Frage nach dem Risiko ist immer die Frage nach dem vermeidbaren Risiko und dem Restrisiko. Die Risikoeinstellung des Menschen hat eine sachliche Komponente (Wissen und Kenntnis der Zusammenhänge), eine ästhetische Komponente (z.B. sich auf risikoreiche Situationen und Verhaltensweisen einlassen oder nicht) und eine emotionale Komponente (z.B. Abenteuerlust, Risikofreudigkeit, Angst, Unsicherheit). Dabei hängen Risikobewusstsein und Risikogefühl (der Risikoinstinkt) zusammen, sie sind aber nicht dasselbe. Aber beide können richtig leiten oder auch täuschen.

In Bezug auf riskante Situationen ist dreierlei zu erreichen:

  • Aversion statt Appetenz
  • Vermeidung statt Annäherung
  • Weg! statt Hin! (Fluchtverhalten, kann trainiert werden)

Anhand von zwei praktischen Beispielen soll der sexuelle Reaktionszyklus noch einmal verdeutlicht werden.

Beispiel 1:

Ich sehe meinen festen Partner. Seine Bewegungen erfreuen mich. Er lächelt mich an. Er umarmt mich. Ich spüre wie mir warm wird und die sexuelle Erregung in mir hochsteigt. Ich möchte ihn küssen, ich will ihn anfassen, ich will Sex. Er geht darauf ein, wir haben Sex.
Bei diesem Beispiel entsteht keinerlei Risikosituation, sofern beide keine sexuell übertragbaren Krankheiten haben und mit dem sexuellen Tun einverstanden sind.

Beispiel 2:

Ich streife ziellos durch die Stadt. Ich phantasiere einen Darkroom, in dem ich sexuell scharfe Aktionen erlebt habe. Ich suche Kontakt. Mein Glied wird steif und will agieren. Kondome sind nicht vorhanden. Es kommt zum ungeschützten Analverkehr passiv mit einem Unbekannten.

Bei diesem Beispiel ist der sexuelle Reaktionszyklus allerspätestens vor dem Agierenwollen abzubrechen, am besten aber schon vorher, z.B. indem man eine Abneigung gegen Darkrooms entwickelt, unsicheren Kontakt vermeidet oder im letzten Moment – dem Risikoinstinkt folgend – flüchtet.

Prof. Dr. Kurt Starke

weiterführende Literatur:

Both, Stephanie; Everaerd, Walter; Laan. Ellen (2005): Sexuelles Begehren und sexuelle Erregung. Zeitschrift für Sexualforschung, Nr. 4, 2005, Stuttgart, S. 364-380

weiterführende Links:

http://www.aidshilfe-dresden.de

http://www.dresden.de/aids

Hinterlasse eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

Du kannst folgende HTML-Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <strike> <strong>