Sexuelle Orientierung

“Mädchen und Jungs lieben Mädchen wie Jungs und die Jungs wären lieber die Mädchen”, resümierte Mitte der 1990er die deutsche Popband “Creme 21″ – und beschrieb so eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Einerseits wird auf die größere Akzeptanz der Vielfalt sexueller Neigungen zum ausgehenden 20.Jahrhundert hingewiesen. Andererseits zeigt die Band so, dass wir uns immer mehr von etablierten, starren Verhaltensmustern und Kategorisierungen abwenden bzw. deren Existenz als selbstauferlegte Einschränkung der freien Persönlichkeitsentfaltung begreifen. Das Interesse gilt dabei vor allem auch der sexuellen Orientierung.

Hinter dem Begriffspaar “sexuelle Orientierung” verbergen sich im Hinblick auf den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs im Wesentlichen zwei Kernthemen: erstens die Frage danach welchem Geschlechtspartner oder welcher Geschlechtspartnerin der Mensch sein erotisches Interesse und sexuelles Begehren, dauerhaft oder sequenziell, zuwendet. Zweitens die Frage danach, wie dies zu bewerten sei. Vor allem auch im Hinblick auf eine gesellschaftlich akzeptable Normalität des sexuellen Begehrens.

Die Möglichkeiten, sich sexuell zu orientieren, sind vielfältig. Am Geläufigsten sind die Begriffe Bisexualität (Liebe Und Sexualität mit Menschen beider Geschlechter), Homosexualität (Liebe und Sexualität mit Menschen des eigenen Geschlechts), und Heterosexualität (Liebe und Sexualität mit Menschen des anderen Geschlechts). Daneben werden zunehmend auch andere Formen sexueller Orientierung anerkannt oder zumindest toleriert, u.a. Auto-Monosexualismus, Pansexualität oder auch Asexualität, um nur drei weitere Möglichkeiten zu nennen.

Geschlechtsidentität

Die sexuelle Orientierung ist eine von vier Hauptkomponenten, anhand derer sich die individuelle Geschlechtsidentität herausbildet.. Neben ihr sind die Aspekte biologische Geschlechtlichkeit, (alle körperlichen Merkmale, u.a. primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale, Hormonhaushalt, Geschlechtschromosomen), psychische Geschlechtlichkeit (meint unabhängig vom körperlichen Geschlecht die Selbstidentifikation als Mann oder Frau) und schließlich die soziale Geschlechtlichkeit (Geschlechterrolle) von Bedeutung. Letztere ist mehr als die anderen drei kulturell geformt und drückt sich in Form von vermeintlich “typischen” männlichen bzw. weiblichen Verhaltensnormen innerhalb sozialer Gemeinschaften aus – das reicht vom Kleidungsstil über die Art der Hobbys bis hin zur Berufswahl.

Jedoch sind weder die Kategorisierungen “typisch Mann” und “typisch Frau” in bezug auf die sexuelle Identität einem “naturhaft gegeben”, noch die vermeintlich richtige Form sich sexuell zu orientieren. Hinzu kommt, dass Identität, auch die Geschlechtsidentität, sich im Laufe unseres Lebens verändert und als unabgeschlossener Prozess zu sehen ist.

“Homophobie”

Die Möglichkeiten von sexuellem Verhalten und Erleben bleiben vielfältig, auch wenn die westlichen Gesellschaften dazu neigen eine zweifelhafte Eindeutigkeit, d.h. eine Sexualnorm, herzustellen. Das führt dazu, dass Menschen, die sich dieser nicht unterordnen können oder wollen, ausgegrenzt oder im schlimmsten Fall tätlich angegriffen werden. Darüber hinaus müssen sich diese Menschen mit inneren Konflikten auseinandersetzen, die erst durch eine solche verfestigte Sexualnorm entstehen und unter denen sie zum Teil erheblich leiden.

Die Sexualnorm bezüglich der Geschlechtspartnerwahl ist in unserer westlichen Gesellschaft die monogame Heterosexualität, welche bis zur sexuellen Revolution Ende der 1960er Jahre vor allem in der Ehe ihren festen Platz hatte. Außerhalb der Ehe wurde sie nur in Ausnahmen akzeptiert.

Gleichgeschlechtliche Liebe und sexuelles Begehren lehnen die meisten Männer auch bei anderen strikt ab. Solche sexuellen Vorurteile hinsichtlich homosexuellem Verhalten werden manchmal auch als “Homophobie” bezeichnet. Die unbegründete Furcht vor gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen ist jedoch nicht unerklärlich. In der Regel wird die sexuelle Orientierung nämlich gleichgesetzt mit der Geschlechterrolle. Ein Mann, der mit Männern schläft, büßt angeblich seine Männlichkeit ein. Dabei hat die sexuelle Orientierung ganz und gar nichts mit der Selbstidentifikation als Mann oder Frau zu tun. Männer bleiben Männer, völlig unabhängig davon mit wem sie ihre Lust ausleben oder auf wen sich ihre sexuellen Phantasien beziehen. In zahlreichen alten Kulturen war homosexuelles Verhalten von großer Bedeutung, hier wurden Jungen sogar erst durch die sexuelle Energie eines männlichen Erwachsenen selbst zum Mann (melanesische Stämme, Neuguinea), Die Gesellschaft geht mit ihrer Sexualität also genau so um, wie ihre Kultur es ihnen vorgibt.

Die sexuelle Orientierung in den Wissenschaften

Die einzelnen Wissenschaften zur menschlichen Sexualität (u.a. Psychologie, Ethnologie und Medizin) sind sich heute weitestgehend einig: Sexualität, wie wir sie erleben, mit ihr umgehen und wodurch sie ihren Ausdruck findet, ist zum überwiegenden Teil erlernt und wurde unabhängig von bestehenden Sexualnormen schon immer in vielfältiger Art und Weise ausgelebt.

Alfred Kinsey

Erste Einsichten dahingehend lieferte das Kinsey-Institut, das über einen Zeitraum von sechs Jahren 18.000 Amerikanerinnen und Amerikaner zu ihrem Sexualverhalten befragte und die Ergebnisse abschließend im Jahr 1953 veröffentlichte. Hierbei zeigte sich, dass etwa 50 Prozent aller Männer und 20 Prozent aller Frauen noch vor dem Erreichen des mittleren Lebensalters einmalig, gelegentlich oder sogar dauerhaft sexuelle Erlebnisse mit Partnerinnen oder Partnern des gleichen Geschlechts hatten. Diese Ergebnisse ließen die Forschungsgruppe zu der Einsicht gelangen, dass im Menschen grundsätzlich “eine außerordentlich große Spannweite und Vielfalt bisexueller Zwischenstufen möglicher Geschlechtspartnerorientierung” (Fiedler) angelegt ist und individuell mehr oder minder stark ausgeprägt zu den Polen ausschließliche Heterosexualität bzw. Homosexualität tendiert (Kinsey-Skala).

Sigmund Freud

Schon Sigmund Freud vertrat um 1900 die Annahme, dass der Mensch dem Grunde nach die Fähigkeit besitzt, sexuelle Beziehungen zu beiden Geschlechtern aufzubauen. Er warnte davor, Abweichungen vom gängigen, heterosexuell geprägten Weltbild vorschnell als Geisteskrankheit bzw. sittliche Verirrung herabzuwürdigen oder diese gar therapieren bzw. unter Strafe stellen zu wollen.  Über einhundert Jahre sind seitdem vergangen.

Heute verhalten sich noch immer bis zu 50 Prozent der Männer und 25 Prozent der Frauen wie damals, indem sie einmalig, gelegentlich oder häufiger sexuellen Beziehungen zu beiden Geschlechtern zugeneigt sind, auch wenn aus Scham und Furcht vor Repressionen nicht darüber gesprochen wird. Ausschließlich homosexuell verhalten sich dagegen nur zwei bis drei Prozent der sexuell aktiven Männer und ein bis zwei Prozent der Frauen. Diese Erkenntnisse lassen eine oberflächliche und ausschließlich zweigeteilte Kategorisierung in Homosexualität und Heterosexualität, als in unserer Gesellschaft vorherrschende Wahrnehmungen der sexuellen Orientierung, zunehmend unsinniger erscheinen.

Resümee

Die Kategorien “homo”, “bi”, “hetero” etc. haben aber auch ihr Gutes – wenn sie nicht als starr und unveränderlich oder sogar “besser” oder “schlechter” als eine andere Form aufgefasst werden. Sie helfen dabei, die Sexualität des Menschen in Worte zu kleiden und diese vielleicht sogar eines Tages zu verstehen. “Schubladendenken” ist für einen Verstehensprozess unerlässlich, doch sollten diese Schubladen immer gut geölt sein. Dadurch lernen wir vielleicht die Welt etwas anders zu sehen und kommen damit unseren Interessen, Bedürfnissen und vor allem unserer Neugierde ein Stück näher, statt sie uns selbst und anderen zu verbieten.

Ricardo Wolske

weiterführende Literatur:

Döbler, Hansferdinand (1971): Kleine Kulturgeschichte. Eros und Sexus. durchgesehene Sonderausgabe 2000, München: Orbis Verlag.

Fiedler, Peter (2004): Sexuelle Orientierung und sexuelle Abweichung. Heterosexualität, Homosexualität Transgenderismus und Paraphilien – sexueller Missbrauch – sexuelle Gewalt. Weinheim/Basel: Beltz, Psychologie Verlags Union.

Rauchfleisch, Udo (1994): Schwule, Lesben, Bisexuelle. Lebensweisen, Vorurteile, Einsichten. Göttingen/Zürich: Vandenhoeck und Ruprecht.

weiterführende Links:

“Die Sexualität des Menschen” (Erwin J. Haeberle):
http://www2.hu-berlin.de/sexology/ATLAS_DE/index.html

“Geschichte der Sexualität” (Karl Pawek):
http://www.geschichte-der-sexualitaet.de

Schweizer Webseite für Bisexuelle:
http://www.bi-net.ch

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